Warum laute Hunde bei leisen Menschen landen – wenn reaktiv auf introvertiert trifft
Wir waren schon immer die Sorte Mensch, die ungern im Mittelpunkt steht. Die, die viel fühlt und tief denkt. Die, die sich den Kopf darüber zerbricht, was andere Menschen über sie denken (könnten). Kurz: Wir sind introvertiert und absolute People Pleaser. Und das schon lange, bevor es überhaupt eine Bezeichnung dafür gab.
Damit sind wir eigentlich ganz gut durchs Leben gekommen. Ruhig, kreativ, naturverbunden – ein leises, feines Duo. Zumindest bis im August 2020 Carlos bei uns einzog. Ein einjähriger Hund aus dem portugiesischen Tierschutz. Spätestens nach 1,5 Wochen war klar: Mit der Ruhe ist es erstmal vorbei.
Denn statt eines verträglichen, lebensfrohen Hundes zog ein reaktiver Hund mit tief sitzenden Deprivationsschäden bei uns ein. Ein Hund, der bei herabfallenden Blättern die Fassung verliert. Ein Hund, der sich bei einem 200 m entfernten Artgenossen die Seele aus dem Leib schreit. Ein Hund, der kein entspannter Alltagsbegleiter war – sondern einer, der ganz viel Unterstützung im Alltag von uns brauchte.
Von heute auf morgen änderte sich unser Leben. Von der letzten Reihe rauf auf die Bühne, direkt ins Rampenlicht. Und mit Carlos’ Unsicherheiten wurden auch unsere eigenen sichtbar. Plötzlich mussten wir laut werden – für seine Bedürfnisse, seine Grenzen. Mussten uns erklären, rechtfertigen, schützen. Mussten sein Sprachrohr sein. Immer. Überall. Dabei konnten wir das doch nicht mal für uns selbst.
Im späteren Austausch mit anderen Hundebesitzern auf Instagram wurde schnell klar: Wir sind damit nicht allein. Laute Hunde landen oft bei leisen Menschen. In diesem Beitrag wollen wir genau darüber sprechen – über dieses ganz besondere Mensch-Hund-Gefüge.
Hunde mit Verhaltensauffälligkeiten: Was betroffene Menschen fühlen
Dass wir mit dieser Erfahrung nicht allein sind, zeigt nicht nur unsere Community, sondern auch eine aktuelle qualitative Studie (Hart, King & Turley, 2023), die sich genau mit dem Leben von Menschen mit reaktiven Hunden beschäftigt hat.
Viele der 37 befragten Halter:innen gaben an, sich regelmäßig zu schämen. Nicht für ihren Hund an sich, sondern für die Art, wie sie von außen wahrgenommen werden: Für das Bellen, für das Ziehen an der Leine, für Situationen, die sie selbst nicht immer kontrollieren können, aber für die sie sich verantwortlich fühlen. Auch das Gefühl, ständig beobachtet oder verurteilt zu werden, wurde häufig genannt.
Besonders auffällig: Der Wunsch nach mehr Verständnis. Verständnis nicht nur für die Hunde, sondern auch für die Menschen am anderen Ende der Leine. Menschen, die versuchen, ihren Alltag zu meistern. Menschen, die mehr leisten, als man auf den ersten Blick sieht.
Was viele außerdem einte: Das Gefühl, mit ihren Herausforderungen oft allein zu sein. Nicht gesehen, nicht ernst genommen, manchmal sogar belächelt. Dabei liegt genau hier das Problem – und der Anfang von allem. Denn Reaktivität ist nicht einfach nur eine „Macke“. Es ist tief, komplex und emotional. Für den Hund. Und für den Menschen.
Die Studie zeigt, dass viele sich überfordert fühlten – nicht, weil sie versagt hätten, sondern weil die Ressourcen fehlen. Die richtigen Ansprechpersonen. Die richtigen Worte. Die richtigen Räume, um das alles überhaupt mal sagen zu dürfen.
Spazieren gehen mit reaktivem Hund: Was der Körper verrät
Innerhalb eines einwöchigen Experiments habe ich (Lisa) mal meinen Puls beim Gassigehen gemessen. Die Beobachtungen waren aufschlussreich – und erschreckend zugleich:
Mein Puls war konstant erhöht – auch ohne direkte Auslöser.
An Tagen, an denen ich damit rechnete, dass viel los ist (z. B. bei Sonne oder am Wochenende), startete ich schon mit einem Puls von über 100 in die Runde.
Sobald Carlos einen Auslöser wahrnahm und in die Leine sprang, schnellte mein Puls auf über 130 hoch.
Je länger ein Reiz bleibt, desto höher mein Stresslevel. Ein Fußgänger, der uns länger folgt, könnte uns ansprechen oder Carlos anfassen wollen.
Im Wald war mein Puls niedriger – obwohl Carlos dort teilweise stärker auf Reize reagierte als im Wohngebiet. Der soziale Druck fehlte.
Kein Auslöser bedeutet nicht automatisch Entspannung. Mein Körper brauchte mehrere Tage, um Stresshormone wieder abzubauen. Genau wie Carlos.
Noch mehr Erkenntnisse erfährst Du in diesem Instagram Beitrag:
Dieses Experiment zeigt: Das Leben mit einem reaktiven Hund hat nicht nur mentale, sondern auch körperliche Auswirkungen, die sich nicht leugnen lassen.
Was wir von reaktiven Hunden lernen können
Aber wir sind uns sicher alle einig: Von solchen Hunden lernt man unglaublich viel, z.B.:
Dass Unsicherheit nicht das Gegenteil von Stärke ist.
Dass es okay ist, Grenzen zu haben. Und dass es wichtig ist, sie zu zeigen.
Dass Rückzug kein Zeichen von Schwäche ist, sondern von Selbstfürsorge.
Dass man nicht perfekt sein muss, um genug zu sein – weder als Mensch noch als Mensch-Hund-Team.
Dass Klarheit oft leiser ist als Lautstärke – aber trotzdem deutlich.
Fazit: Warum laute Hunde bei leisen Menschen landen
Und vielleicht ist das der Grund, warum laute Hunde so oft bei leisen Menschen landen. Vielleicht, weil sie uns aus unserem Schneckenhäuschen locken. Uns zu Mutausbrüchen entführen, die schwer sind – und gleichzeitig schön. Vielleicht, weil sie uns zeigen wollen, dass es okay ist, Raum einzunehmen. Dass unsere Stimme zählt. Dass wir mehr sind als unser Stillsein und unsere Ecken und Kanten.
Laute Hunde zwingen uns dazu, nicht nur für sie einzustehen – sondern auch für uns selbst. Sie machen uns sichtbar in einer Welt, in der wir uns oft lieber unsichtbar gemacht hätten. Und vielleicht passen wir deshalb so gut zusammen: Weil wir beide kämpfen, um verstanden zu werden. Weil wir beide sensibel sind – nur auf unterschiedliche Weise.
Vielleicht leben wir beide – Hund und Mensch – in einer Welt, die zu laut, zu schnell, zu eng ist für all das, was uns ausmacht. Aber vielleicht liegt genau darin unsere gemeinsame Chance: Dass wir aufhören, uns anzupassen, und anfangen, uns selbst zuzuhören. Auch wenn’s schwer ist. Auch wenn´s Mut kostet.
Vielleicht braucht die Welt mehr laute Hunde bei leisen Menschen. Weil beide etwas voneinander lernen können. Und weil es kein Zufall ist, dass ihr Euch gefunden habt.

Wer schreibt?
Hi, wir sind Nikolas & Lisa und gemeinsam mit unserem Tierschutzhund Carlos haben wir 2021 rabaukenglück gegründet. Auf Instagram und in unserem Podcast „rabauken Radau” lassen wir andere Hundebesitzer offen & ehrlich an unserem Leben mit Carlos teilhaben und geben hilfreiche Tipps & Reminder für einen positiven & achtsamen Alltag mit Hund.
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